Widerständige Archive
In diesem Text reflektiert die Performerin Ali Schwartz aus Zuschauerinnensicht die Performance, die im Rahmen des Symposiums „Safer Spaces im öffentlichen Raum – Kunst als Medium und Methode“ am 7. Dezember 2024 im Stadtteilhaus Ihmelsstraße stattgefunden hat. Gemeinsam mit amaeze, eine der vier Künstler:innen, zeichnen sie ein Bild von künstlerischem Widerstand.
In der Performance von Aïcha Konaté, Senja Brütting, amaeze und Sakin wird der öffentliche Raum neu definiert. Mit kraftvollen Stimmen fordern die BiPoC Künstler:innen Platz für ihre Perspektiven in der Kunstwelt. Ihre Geschichten sind ein Aufruf zur Verbindung und zum Widerstand gegen gesellschaftliche Ungleichheiten.
amaeze „Ich denke für uns alle spielen Safer Spaces eine Rolle. Sowohl im Alltag, als auch in der künstlerischen Arbeit. Für uns war vor allem wichtig, Bedürfnisse abzuklären. Was soll passieren, was soll auf keinen Fall passieren, womit fühlen wir uns wohl und womit nicht, was sind Trigger und wie lassen wir es uns gut gehen? So ist dann der Spaziergang durch das Haus entstanden.
Obwohl die Performance im Stadtteilhaus stattgefunden hat, war es für mich trotzdem ein öffentlicher Raum, vor allem, weil ich wusste, dass mein Körper wieder einem mehrheitlich weißen Setting ausgesetzt werden wird, bei dem insbesondere
gaze1 eine große Rolle spielt. Zu versuchen, diesen Ort zu unserem zu machen, hat Spaß gemacht und trotzdem ist es für mich auch währenddessen eine Illusion geblieben.”
Ein Raum im Erdgeschoss mit Glasfassade
Auftritt der Stage-Personas von Aïcha und Senja während der KüFa:2 Sie tragen extravagante Anzüge, Raver-Sonnenbrille, Goldschmuck. Sie platzen rein, schaffen sich Platz, glotzen uns an und schweigen. Sie krabbeln über Tische, schmecken die Soße ab, flirten mit uns: „Welcome to my house! Willkommen daheim (fränkisch: Zu Hause)!“ Sie tanzen wild zu Reggaeton, der Suppentopfdeckel wird zur Drum. Dann laden sie uns ein, mitzukommen. Zu „Let the sun shine”, dem Track, den Aïcha mit ihrer Boombox souverän abspielt, ziehen wir erstmal durch den Gang nach draußen… in den Regen. Einzelne Menschen im Publikum singen leise mit.
Der Vorplatz
„Are you with us?“ werden wir gefragt, wir brüllen: „Yeah!“ Mit empor gehobenen Armen feiern Aïcha und Senja die Regentropfen. Wir sind im öffentlichen Raum und es wird improvisiert. Es mag einen Score, also eine Struktur dafür geben und doch könnte jetzt irgendwie alles passieren. Drag-style lip-singing auf den Sitzbänken, sich umarmende Menschen im Publikum, lachende Augen, liebevolles Giggeln. Gebrochen vom Geschrei: „Ich hab so´n Heimweh / so Halsschmerzen / so'n Kloß im Hals, deshalb sing ich laut.”
amaeze „Ich bleibe in Bewegung, weil ich gar nicht anders kann. Eine so abgefuckte Welt ist für mich noch viel mehr Grund, Kunst zu machen, weil sie bewegt, heilt, Verbindungen schafft und Mittel ist gegen Betäubung. Kunst sehe ich als storytelling Medium, letztendlich geht es dabei für mich auch darum, widerständige Archive zu kreieren.”
Aïcha und Senja wüten und surfen zwischen schrillem Protestgesang und unberechenbar verrücktem Drüber-sein. Denn sie wollen sie alle da draußen (auf dem Vorplatz), uns alle dazwischen (zwischen Vorplatz und Eingang) wissen lassen:
Sie werden „abgeschnitten“ und sie „wollen Platz“ im Kulturbetrieb!
amaeze „Was ich auf jeden Fall sagen kann, ist, dass wir alle ein politisches Verständnis von Machtstrukturen haben. Ehrlich gesagt bin ich super müde davon, dass BiPoC Künstler:innen ständig vorgegeben wird, womit sie sich beschäftigen sollen und die Themen, mit denen wir uns wirklich beschäftigen oder arbeiten möchten, nicht gefördert oder zensiert werden. Für mich ist vor allem die Frage, was Kulturinstitutionen leisten müssen in dieser Zeit, da Kunst und Kultur krass institutionalisiert sind in Deutschland. Gesellschaftliche Ungleichheit ist in deren Vorständen, Teams und Strukturen repräsentiert, deshalb wundert es auch nicht, dass so wenig Transformation passiert. Ich wünsche mir, dass Personen, die an diese Institutionen geknüpft sind, Platz machen für marginalisierte Stimmen. Aber Personen in Machtpositionen haben da meist keinen Bock drauf, weil es auch Komfortverlust bedeutet, aber das ist eben allyship.”

Aïcha und Senja auf dem Vorplatz brüllen für mehr Platz in Kunstwelt
Wir folgen den beiden wieder ins Stadtteilhaus, die Treppen rauf, Gemurmel in der Crowd.
Das Fenster im Gang
Im ersten Stock sitzt die Stage-Persona von amaeze entspannt auf dem Fensterbrett, die Beine sind gespreizt. amaeze trägt ein blaues Tüllkleid, blickt herum, posiert und beginnt zu sprechen:
„Alles, was nicht meine Wohnung ist, ist für mich unsicher.
Ich brauche Schichten, Lagen, Layers, Fett, Pufferzone, um mich zu schützen. Manchmal möchte ich im Astronautenanzug ausgehen. [...]
Heute möchte ich mit friends eingehakt die Straßen hinuntergehen,
mich ein wenig sicherer, safer fühlen,
aber vor allem geliebt und geborgen.”

amaeze im blauen Kleid auf der Fensterbank
amaeze „Ich erlebe es als empowernd, dass die Geschichten, die ich erzähle, durch welches Medium auch immer, bezeugt werden. Zeug*innenschaft ist etwas, das mich sehr beschäftigt, gerade im deutschen Kontext. Was ich auch gerne mag, ist, mit meiner Stimme zu arbeiten, andere zum Spüren zu bringen und vor allem mit dem Fokus auf gaze zu brechen. Generell orientiere ich mich eigentlich immer an Leerstellen, an dem, worüber wenig oder gar nicht gesprochen wird, an dem, was wenig sichtbar ist, was unterdrückt wird, an dem, was mit westlichen Binaritäten bricht etc.”
amaeze nimmt uns mit und erzählt von dem Kleid - das Kinderkleid für Erwachsene:
amaeze „Es steht für Spaß, Verspieltheit, Freude an Textur, Verträumtheit, Sinnlichkeit, Raum einnehmen, meine queerness, Kostüm, Schutzschicht, und noch vieles mehr.”
amaeze erzählt davon, dass Erwachsene keinen Spaß mehr haben und von dem Kind in der Straßenbahn, das eine Reiswaffel an die Scheibe haut: „nicht wütend. einfach nur, um zu gucken was passiert.“ Das ist Spaß, und das möchte amaeze auch und dann nimmt uns amaeze mit ans Meer, schließt die Augen und treibt in den Wellen mit den Möwen:
“After the rage became unbearable, I changed into something else.
I refused to carry out their ugliness.
They expected me to sacrifice myself, as if I was just born to save them. [...]
I turned into a seashell and lost all my memories. [...]
They admired my beauty as if they've never seen me before.
I laugh at their ignorance."
amaeze „Wen spreche ich an, zu wem spreche ich? Das ist eine ausschlaggebende Frage. Mir ist es wichtig, in meiner Arbeit in erster Linie Personen, die ähnlich positioniert sind wie ich, anzusprechen. Das heißt rassifiziert, queer, crip etc. Der Rest ist eingeladen, zu bezeugen, zu spüren, zuzuhören und zu lernen. Mein Fokus liegt nicht darauf, eine Mehrheitsgesellschaft aufzuklären, sondern Verbindungen innerhalb marginalisierter communities herzustellen in einer Gesellschaft, die uns voneinander isoliert. Dabei geht es auch viel darum, das Zentrum zu verschieben bzw. neu zu besetzen. Ich arbeite aber schon anders inhaltlich, wenn ich weiß, dass viele weiße Menschen da sein werden. Dann gibt es Dinge, die ich nicht teile, weil es auch immer darum geht, Wissen und Archive zu beschützen, vor Ausbeutung und auch mich zu schützen. Meist mache ich dann eine inhaltliche Mischung und nehme auch einen Text mit rein, der sich an privilegiertere Positionen richtet.”
amaeze wiederholt die Phrase „and I laugh“ mehrfach und beginnt künstlich zu lachen. Nach einer Weile verstummt amaeze plötzlich und wir gehen weiter die Treppen hoch.
Das Treppenhaus
Im Treppenhaus zaubert amaeze einen letter to a lover aus dem Kleid hervor. Wir sollen an die Menschen denken, die wir lieben, die unsere lovers sind.
“What if we wanted to love without the fall. [...]
What if we told ourselves to slow down, would time slow down with us?”
amaeze „Ich glaube, dass wir uns alle während der Erarbeitung der Performance einig waren, uns nicht zu stressen, unsere Bedürfnisse abzuklären, darauf zu achten, dass es uns gut geht, uns nicht zu überarbeiten etc. Das sagt schon sehr viel über das aus, was wir gewohnt sind. Wir müssen so sehr auf uns achten, weil es Andere nicht tun und Strukturen so gebaut werden, dass wir die meiste Zeit nicht davon profitieren. Dort, wo ich intersektionale Realitäten und community-Arbeit sehe, bemerke ich auch, wie müde und überlastet Leute sind, weil es mehrfach marginalisierte Personen sind, die diese Arbeit machen und wenig Unterstützung von Anderen kommt.”
Es beginnt atmosphärische Musik im Treppenhaus und amaeze ist langsam, bewegt sich in Zeitlupe weiter nach oben, den Gang entlang zum Aufzugsschacht, der wie ein Glaswürfel mittig am Ende des Flures liegt. Wir folgen. Ganz langsam.
Der Aufzug
Dort stehen sich auf den zwei Seiten des Glaswürfels Aïcha und Senja gegenüber. Wie bei einem Spiegelbild schweben ihre Arme nach oben während Senjas Stimme auf Tonband zur Ambient-Musik davon spricht wie es sich anfühlt, wenn es sicher ist: sicher in uns selbst, sicher im eigenen Körper, sicher im Kontakt,
… sie nehmen ihre coolen Brillen ab…
sicher in der Berührung,
… sie knien nieder und verneigen sich voreinander.
Sie lächeln sich frech zu, greifen in ihre Sakko-Taschen und holen eine Reiswaffel hervor. Dann haben sie Spaß. Sie werfen die Reiswaffeln herum, stecken sie in ihre Münder. Und wir im Publikum haben Spaß: Ach wie schön. Es gibt ja doch ein happy end. Doch das schrille Lachen von Aïcha und Senja bricht die Harmonie. In mir ein Grinsen, das sagt: Never mess with a queer witch.
Dann setzt sich amaeze Senjas Sonnenbrille auf und performt den black feminist Song „Haute“ von Janelle Monáe. Ballroom culture vibes im Stadtteilhaus.
amaeze „Ich hatte das Gefühl, dass das Publikum sich eingelassen hat auf die Performance und mit uns gespürt hat. Gesichter lassen sich schwer lesen währenddessen, deshalb ist das schwer zu sagen. Für mich hat es einen großen Unterschied gemacht, dass friends und BiPoC-Bekannte im Publikum waren.”
Der Seminarraum
Der Song führt uns zurück in den Workshopraum, wo wir einen großen Kreis bilden. Sakin kniet mittig im Raum nieder und beginnt mit den Händen zart den Boden zu berühren und der Holzboden wird zum Sandstrand. Dann startet eine Playlist mit Sakins Lieblingssongs, zu denen sie frei und leidenschaftlich tanzt. Sakin ist ganz bei sich. Es fühlt sich fast so an, als würde sie ganz für sich alleine im Zimmer tanzen. Im Raum entsteht eine Intimität, die zu bezeugen sehr berührend ist.

Sakin in einer Geste mit ausgestreckter Hand, im Hintergrund Menschen aus dem Publikum
amaeze „Meine Vision ist es, in einer Welt zu leben, in der jede Person ihr calling leben kann. Ich glaube fest daran, dass es für uns alle schon einen Plan gibt und wir nur herausfinden müssen, was dieser ist. Wir haben auf dieser Erde eigentlich alles, was wir dafür brauchen. Als Künstler*in verstehe ich es als meine Aufgabe, mich und andere daran zu erinnern. Das heißt auch, auf all die Missstände aufmerksam zu machen, weil sie erst erkannt werden müssen, um sie verändern zu können.”
Beim letzten House Track kommen alle anderen Performer:innen dazu und formieren sich als Kollektiv, die Köpfe aneinander gelehnt, bis der Applaus beginnt.
amaeze „Leute können noch so viel machtkritische Theorie gelesen haben und trotzdem nichts checken in der Praxis. Die emotionale Ebene ist für mich die ausschlaggebende, weil sie bestimmt wie Leute miteinander umgehen und sie gerade im deutschen Kontext, gerade auch in Leipzig, abgetan wird. Körperwissen ist Wissen und es sind unsere Körper, die stigmatisiert werden und Gewalt erfahren, deshalb finde ich, muss auch dort angesetzt werden.”
Fußnoten
Gaze bezeichnet in den Kultur-, Medien- und Sozialwissenschaften die durch gesellschaftliche Machtverhältnisse geprägte Art und Weise, wie Menschen, Gruppen oder Körper betrachtet, dargestellt und wahrgenommen werden. Dabei spielen Faktoren wie Hautfarbe, Geschlecht, Klasse, Sexualität oder kulturelle Zugehörigkeit eine zentrale Rolle, weil sie bestimmen, wer den Blick ausübt und wer Gegenstand des Blicks ist.
„Küfa“ ist die Abkürzung für „Küche für alle” und steht für ein gemeinsames, selbstorganisiertes Kochevent, bei dem das Essen meistens kostenlos oder gegen eine Spende angeboten wird.
Ali Schwartz ist queer-feministische Performancekünstlerin, Systemische Therapeutin (DGSF) und Traumatherapeutin (NARM™, i. A.) in der Praxis System Körper Raum in Leipzig. Mit einem Fokus auf consent culture und community building forscht Ali zu transgenerationalem Trauma und Bindung, intersektionalem Empowerment und Embodiment, sowie zu dekolonialen Praxen, die dominante Narrative hinterfragen und Fürsorgeutopien für alle gestalten. (www.alinican.com)