„Heritage is the answer! But what was the question?“ – Museen, Denkmalpflege und das Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft
Am 14. Juni 2025 hielt Gülşah Stapel den Vortrag vor dem Soldatendenkmal am Neustädter Markt.
Was bedeutet es, kulturelles Erbe in einer Gesellschaft zu denken, die von Vielfalt, Menschenrechten und dem Streben nach sozialer Gerechtigkeit geprägt ist? Warum ist es wichtig, die Aushandlungsprozesse rund um kulturelles Erbe nicht nur als kulturpolitisches, sondern auch als soziales Thema zu begreifen?

Guten Abend,
Vielen Dank für die Einladung zum Forum „2 Tonnen Kalkstein“. Ich freue mich, heute meine Forschungsgedanken zu Denkmälern zu teilen – genauer gesagt: über das, was Denkmäler mit uns machen, zu sprechen. Und vor allem, was wir mit ihnen machen.
Im Zentrum steht ein Gefallenendenkmal, errichtet 1926 zur Erinnerung an die im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten. Es handelt sich um ein sogenanntes gesetztes Denkmal – ein Denkmal also, das von Beginn an für das Erinnern vorgesehen war. Dies unterscheidet es von den sogenannten gewordenen Denkmalen: Orten oder Objekten wie Kiosken, Fassaden oder Brunnen, die erst im Laufe der Zeit eine zusätzliche kulturhistorische Bedeutung erhalten haben – etwa durch soziale Praxis, historische Ereignisse oder durch ihren Alterswert.
Nach 1990 wurde dieses Denkmal unter Denkmalschutz gestellt – aufgrund seiner künstlerischen und ortsgeschichtlichen Bedeutung; ursprünglich gestaltet von Kurt Günther, dessen Geschichte mir aktuell nicht präsent ist. Heute ist diese Skulptur aber mehr als ein historischer Ort geworden: es ist eine Projektions- und Aushandlungsfläche.
Die Graffiti auf dem Denkmal zeigen, dass dieser Stein nicht nur Vergangenheit konserviert, sondern auch gegenwärtige Konflikte abbildet. Es wurde sogar zur Bühne für politische Vereinnahmung durch rechts-identitäre Gruppen. Dieses Denkmal hat also im Laufe seiner Geschichte verschiedene Bedeutungen angenommen und ist deshalb auch bzw. zusätzlich ein gewordenes Denkmal.
Warum spreche ich hier?
Ich komme aus der Forschung zu Denkmal- und Erbekonstruktionen in der Migrationsgesellschaft. Und das klingt im ersten Moment weit weg von einem Gefallenendenkmal des Ersten Weltkriegs. Doch es gibt einen roten Faden:
Mein Thema ist nicht Migration. Mein Thema ist Identität. Und genauer: das enge Zusammenspiel zwischen öffentlichem Kulturerbe und gesellschaftlichen Wir-Vorstellungen.
Ich möchte mit diesem Vortrag drei Denk-Räume öffnen, die über das konkrete Denkmal hinausweisen:
Identität
Macht
Bühne
Diese drei Denk-Räume helfen uns zu verstehen, was auf dem Spiel steht, wenn wir über Kulturerbe, Erinnerung und Zugehörigkeit sprechen.
Denkraum 1: Identität
Der Satz „Heritage is the answer, but what was the question?“ stammt vom Judaisten James E. Young.
Er bringt auf den Punkt, wie überfrachtet der Begriff des kulturellen Erbes heute ist. „Heritage“ scheint die Antwort auf alles zu sein: auf Identitätsfragen, auf kulturelle Differenz, auf Globalisierung, auf gesellschaftliche Unsicherheit. Aber was war die eigentliche Frage?
Im DFG-geförderten Forschungsverbund „Identität und Erbe“ an der TU Berlin und der Bauhaus-Universität Weimar, an dem ich beteiligt bin, wurde deutlich: Es gibt kein Kulturerbe, das wertfrei oder objektiv ist. Jede Erbekonstruktion transportiert eine Vorstellung eines Selbst und erfüllt damit auch einen gesellschaftspolitischen Zweck.
Das heißt: Kulturelles Erbe ist immer auch politisch.
Es geht nie nur um „die Vergangenheit“ oder um etwas, das per se geschützt werden müsste, denn jede Generation entscheidet sich aktiv dafür etwas zu bewahren, es zu vermitteln oder auch nicht. Es ist eine Auswahl. Eine Perspektive. Und vor allem: ein Ausdruck dessen, wer zur Gesellschaft dazu gehört und diese Auswahl und Perspektive sichtbar mitprägen kann.
Kulturelles Erbe entsteht nicht einfach. Es wird gemacht. Und zwar in konkreten sozialen Aushandlungen.
Erbe und Identität stehen in einem Wechselverhältnis:
Manchmal bringt eine bestimmte Identitätsvorstellung ein bestimmtes Erbe hervor.
Und manchmal entwickelt sich aus einem bestimmten Erbe immer wieder eine bestimmte Identität.
Das heißt auch: Wer sich auf ein „gemeinsames Erbe“ bezieht, stellt Ansprüche. Auf Zugehörigkeit. Auf Raum. Auf Geschichte. Aber auch wer ein Erbe ablehnt, stellt Ansprüche. Auf Zugehörigkeit. Auf Raum. Auf Geschichte.
Weder Kulturerbe, noch Vorstellungen von kultureller Identität entstehen linear; sie sind kein stabiles Etwas und auch nicht präexistierend. Es ist nicht so, dass ein Erbe zufällig existiert und damit eine bestimmte Identität repräsentiert oder sagen wir beweist. Ein Erbe existiert, wenn jemand wollte, dass es existiert. Es wird sozial konstruiert.
Das bedeutet: Wenn wir kulturelles Erbe weitergeben oder wenn sich Gesellschaften auf ein gemeinsames Erbe beziehen, dann passiert dabei mehr als bloße Weitergabe. Es sind komplexe, oft umkämpfte Prozesse, in denen Gruppen sich ihrer selbst vergewissern und dadurch überhaupt erst gesellschaftlich existieren. Deshalb geht es gerade beim materiellen Erbe, also bei Steinen, immer heiß her.
Denken Sie an die Rekonstruktionsvorhaben der Schlösser und Kirchen, an die Abrissdebatten rund um politisch ungewolltes Erbe oder um das Ringen um die Entstehung von Erinnerungs- und Gedenkorten von marginalisierten Gruppen, wie zum Beispiel Sinti und Roma oder dekolonisierender Initiativen.
Eine offene Gesellschaft kann nicht nur entlang „bestimmbarer“ Vorstellungen funktionieren. Eine offene Gesellschaft braucht auch genug Raum für Unbestimmbares, Ambiguität und Realitäten, die nicht in Kategorien passen.
Wie gehen wir mit öffentlichem Kulturerbe um, wenn die Öffentlichkeit nicht mehr als ethno-nationale Gruppe, sondern als plurale und diverse Gemeinschaft anerkannt wird? Ich sage bewusst anerkannt, denn jede nationale Gemeinschaft war schon immer inhärent plural und divers. Dies ist kein Phänomen der Neuzeit.
Den Begriff Migrationsgesellschaft betrachte ich in diesem Zusammenhang auch als Gegendenkmodell zur ethno-national homogen gedachten Phantasie einer eindeutig bestimmbaren und abgrenzbaren Deutschen Gesellschaft.

Ein kurzer historischer Exkurs
2006 war ein Schlüsseljahr für die internationale Heritage-Debatte. In diesem Jahr erschien das Buch „Uses of Heritage“ von Laurajane Smith. Sie formulierte darin, dass es nicht das Erbe selbst ist, das spricht, sondern die Art und Weise, wie damit umgegangen wird erzählt uns etwas. Sie sprach vom „authorized heritage discourse“, also von einem Erbediskurs, der von Expert*innen, Institutionen und dominanten Gruppen kontrolliert wird und stellt die soziale Bedeutung von „Heritage“ in den Mittelpunkt.
Zur gleichen Zeit übergab mir meine damalige Denkmalpflege-Professorin Gabi Dolff-Bonekämper ein Buch von Dolores Hayden: „The Power of Place“, welches allerdings vor dem Buch von Laurajane Smith erschienen war. Hayden beschrieb darin, wie in Los Angeles die unsichtbaren Geschichten von Latinas und Arbeitermilieus sichtbar gemacht wurden. Wie unbekanntes Wissen hervorgebracht und wie sich die Verankerung mit dem öffentlichen Raum sowohl auf die Communities, als auch auf die unmittelbare Nachbarschaft positiv auswirkten.
Beide Bücher kreisten um dieselbe Frage: Wessen Geschichte wird erzählt? Und wessen nicht?
Zu dieser Zeit entwickelte sich eine Bewegung, die ich als Recht-auf-Erbe-Paradigma bezeichne: Es ging und geht um die Forderung, dass alle Menschen, die in einer Gesellschaft leben, auch Teil der kollektiven Erinnerung sein sollen.
Dieses Paradigma bezieht sich auf Artikel 27 der Menschenrechtserklärung, in dem steht, dass jeder Mensch das Recht hat, am kulturellen Leben teilzunehmen. Paradigma deshalb, weil es eher eine allgemeine Denkweise, ein Muster abbildet als ein tatsächlich ausgeführtes politisches Programm. Eine Agenda, in der es vor allem um Repräsentation geht.
Aber wie sieht das in der Praxis aus? Wer ist sichtbar? Und wer bleibt unsichtbar?
Die voneinander abhängigen Konzepte von Identitäts- und Erbekonstruktionen repräsentieren nicht nur, sie bestimmen auch unser Denksystem und unsere Werkzeuge, mit denen wir gelernt haben, die Welt und wie sie geworden ist, zu erklären und zu verstehen. Ganz einfach ausgedrückt: Wir wollen eine gerechtere und vielfaltsbejahende Welt, haben aber weder das Werkzeug noch die Erfahrung, wie diese tatsächlich aussehen und gestaltet werden könnte. Wir haben auch keine Antwort dafür, wie wir dabei auch real existierenden Unterschieden Raum lassen können und vor allem worin eine Gesellschaft verbunden bleiben kann.
Die Geschichten und sichtbaren Spuren vergangener Zeiten einer Stadt sind gewichtige und in demokratischen Gesellschaften daher auch konfliktträchtige Teile unseres kulturellen Erbes. Da das städtische Erbe von existentieller Bedeutung für Individuen, aber vor allem auch für Vorstellungen von Gemeinschaften ist, erfordert der Umgang damit ein besonders sensibilisiertes Verständnis für das Zusammenspiel von Identitäts- und Erbekonstruktionen und ein Bewusstsein für dessen langfristige Auswirkungen auf gesellschaftliche Werte- und Orientierungsdiskurse.
Öffentlich gestütztes Kulturerbe ist nicht neutral
Mit „öffentlich gestütztem Kulturerbe“ meine ich:
Kulturerbe, das gesetzlich geschützt ist (z. B. durch den Denkmalschutz)
Kulturerbe, das durch öffentliche Mittel finanziert wird
Kulturerbe, das in Museen, Schulen, Lehrplänen, Medien präsent ist
Kulturerbe, das sichtbar gemacht wird (Gedenktafeln, öffentliche Kunst)
Alle diese Formen von Kulturerbe sind nicht neutral. Sie sind Ausdruck einer bestimmten Gesellschaftsvorstellung. Und sie bestimmen mit, welche Geschichten und damit Personengruppen wertvoll sind und wer dazugehört.
Auch der Denkmalschutz ist nicht nur ein juristischer Verwaltungsakt. Er ist ein Katalysator gesellschaftlicher Identitäten. Was unter Schutz steht, ist nie nur konservatorisch, sondern immer auch kulturell und politisch motiviert. Alle Institutionen und Akteur*innen, die Verantwortung für Kulturerbe tragen, die, wie Laurajane Smith sie nennt, „autorisierten Instanzen“, sind somit auch nicht neutral. Sie sind Teil der Machtverhältnisse, die bestimmen, was erinnert wird, wie erinnert wird und wer dabei sichtbar wird. Sie entscheiden mit darüber, was als wichtig gilt, wer repräsentiert wird und wer nicht – und sie gestalten die Regeln dieser Aushandlungen mit. Aber glauben sie, dass dies bewusst reflektiert wird? Dass diejenigen Menschen, die täglich diese Themen „verwalten“, sich dieser Verantwortung bewusst sind? Und glauben sie, dass diese aktiv versuchen einen Beitrag zu leisten, dass sich die Vielfalt der Gesellschaft auch im kulturellen Erbe manifestiert?
Unsicherheit als Triebkraft
Ein zentraler Grund, warum Erbe heute so aufgeladen ist, ist die gesellschaftliche Verunsicherung.
Viele Menschen wissen nicht mehr genau, was die „Spielregeln“ der Gesellschaft sind. Wer dazugehört. Wer mitreden darf. Was uns als Gesellschaft verbindet.
In solchen Momenten entsteht der Wunsch, sich an etwas festzuhalten. Erbe wird dann zur Antwort auf Zugehörigkeitsfragen. Doch wenn das so ist, dann müssen wir auch klären: Was war die Frage? Ganz unmittelbar und persönlich: Verhandele ich derzeit, wie es um meinen eigenen Platz in einer sich wandelnden Welt steht oder versuche ich für mich einen Platz einzunehmen und diesen zu bestimmen?
Hindern uns Unsicherheit und Wettbewerbsdruck womöglich daran, neue Spielregeln auszuhandeln?

Denkraum 2: Macht
Die Geschichte der Migration nach Deutschland erzeugte nicht eine neue Situation, sie machte Verhältnisse zwischen Identität und Erbe nur deutlicher und forderte stärker heraus, diese Selbstreflexion der Gesellschaft durchzuführen. Dies ist keine Belastung, sondern eine Chance für eine Gesellschaft, sich stark weiterzuentwickeln.
Was erinnert wird, wer erinnert wird, und in welchen Formen – das entscheidet darüber, wer dazugehört. Wird dies gut verhandelt, werden damit auch solide Grundsteine für eine Gesellschaft gelegt, die zusammenarbeiten und gemeinsam – bei allen Unterschieden – eine Zukunft voller Potenziale aufbauen will.
Wenn migrantische Geschichten kaum im Stadtbild auftauchen, wenn postkoloniale Perspektiven fehlen, wenn antirassistische Bewegungen unsichtbar bleiben, dann bedeutet das: Entwicklungschancen nicht genutzt. Es schadet allen.
Selbst wenn das Recht auf Teilhabe – also auf Erinnerung, Repräsentation, Mitsprache – formal für alle gleich ist, zeigt die Realität: Es gibt kulturelle Hürden, soziale Machtverhältnisse und tradierte Hierarchien, die darüber entscheiden, wie Kulturerbe artikuliert werden kann und wie nicht.
Wer hat das Wissen, die Sprache, die Netzwerke, um sich in diese Debatten einzubringen? Wer wird gehört? Dies sollte nicht nur im Interesse der Nicht-Repräsentierten liegen, sondern im Interesse einer klugen und starken Gesellschaft.
Erinnerung als Nullsummenspiel?
Michael Rothberg hat mit seinem Konzept der „multidirektionalen Erinnerung“ einen Ausweg gezeigt:
Erinnerungen sind nicht in Konkurrenz, sondern in Beziehung.
Erinnerung an den Holocaust, an Kolonialismus, an Migration – sie können sich gegenseitig ergänzen, erweitern, bereichern.
Doch in der Praxis erleben wir oft das Gegenteil: Ein Nullsummenspiel. Wer erinnert wird, scheint anderen Platz wegzunehmen. Wer ein Denkmal bekommt, ruft sofort die Frage hervor: Wer nicht?
Das führt zu neuen Ausschlüssen. Und es verhindert ein offenes, solidarisches und wenn nicht solidarisches dann zumindest tolerantes Erinnern.
Wenn bestimmte Gruppen, etwa Migrant*innen oder postkoloniale Communities, nicht sichtbar in das kulturelle Gedächtnis einer Stadt eingeschrieben sind, dann ist das kein Zufall. Ihre Geschichten müssen sich oft mühsam gegen die etablierten Vorstellungen von „deutscher Kultur“ und „nationaler Erinnerung“ behaupten, sofern sie überhaupt die Kapazitäten und das Selbstbewusstsein haben, sich einbringen zu können. Auch wenn sie längst Teil dieser Gesellschaft sind, bleiben sie in vielen Erinnerungsformen unsichtbar oder am Rand. Dies hat Auswirkungen auf die Fähigkeit deutsch-sein gelassener und offener zu verstehen, und verankert den Glauben an eine bestimmbare und eindeutige, deutsche Identität und verhindert so gesellschaftliche Innovation und Fortentwicklung.
Die Stadt ist hier keine leere Bühne, sondern ein Erinnerungstheater, auf dem institutionelle Akteure wie Denkmalämter, Museen, Stadtverwaltungen, aber auch zivilgesellschaftliche Gruppen und Einzelpersonen um Aufmerksamkeit, Deutungshoheit und Anerkennung ringen. Im Umgang mit Erinnerung gibt es Ein- und Ausschlüsse, oft nicht rechtlich, aber sehr wohl symbolisch und gesellschaftlich.
All das führt uns zu einer zentralen Frage:
Was braucht es, um aus dieser komplexen Gemengelage einen gerechteren, inklusiveren Umgang mit öffentlichem Erinnern zu entwickeln?
Wir brauchen Kriterien, Verfahren und Räume, um Fragen nach dem öffentlich gestützten Kulturerbe offen zu verhandeln – mit Argumenten, nicht mit Macht.
Die Angst vor Machtkritik (in Form von strukturellem Rassismus oder anderen Formen von Autoritarismus) oder gar vor Missbrauchs treibt eine Schutzmauer der Bürokratie hoch, die eigentliche, unbequeme Beweggründe vor sich selbst und allen versteckt. Macht bewegt sich lieber im Schatten. Aushandlungen auf der Basis von Vernunft und Argumenten, gerade im Zusammenhang mit so einem sensiblen Thema wie gesellschaftlicher Zugehörigkeit, werden auf politischer Ebene nicht geführt. Und so wird auch die Kluft zwischen überholten Ordnungsprinzipien und einer sich stetig verändernden Gesellschaft, die sich eigentlich neue Spielregeln geben müsste, immer größer. Dies sichert meiner Beobachtung nach nicht die gesellschaftliche Ordnung, sondern verpasst die Chance, als Gesellschaft Ambiguitätstoleranz, Zusammenarbeit und eine gelassene Zusammengehörigkeit bei allen Unterschieden zu lernen.
Tucholsky schrieb 1919: „Da werden Akten gewälzt, Notizen gesammelt, Protokolle studiert – und am Ende war es keiner gewesen.“
Dieser Satz ist eine bitter-ironische Kritik an der Art, wie Verantwortung systematisch zerredet und verwaltet wird, bis niemand mehr haftbar gemacht werden kann – besonders treffend im Kontext von Bürokratie, Macht und kollektiver Amnesie.
Wenn wir wirklich glauben, dass Menschen Individuen sind und frei, dass nationale Gesellschaften vielfältig und plural sind, dass Menschenrechte universell gelten, und dass eine starke Zivilisation sich um alle ihre Mitglieder kümmert, dann muss sich genau das auch in unserem Umgang mit Kulturerbe im öffentlichen Raum widerspiegeln.
Nicht als Ausdruck von Macht – sondern als Einladung zur Mitsprache, Teilhabe und Aushandlung.

Denkraum 3: BÜHNE – Die Stadt als Theater der Erinnerung
Und damit kommen wir zum dritten Denkraum: Das Kulturerbe und die Stadt als Bühne. Wenn wir die Stadt als Gedächtnisraum verstehen, dann stellt sich eine zentrale Frage:
Wie werden Geschichten dort erzählt?
Hier hilft ein Modell aus meiner Arbeit: Ich unterscheide zwischen einem aristotelischen und einem epischen Theater der Erinnerung.
Aristotelisches Erinnern
Das aristotelische Theater folgt der Idee der Einheit, Katharsis und emotionalen Identifikation. Das Publikum soll mit den Figuren mitfühlen, sich in ihre Schicksale hineinversetzen, geläutert aus dem Stück hervorgehen. Übertragen auf Erinnerungsorte bedeutet das:
Klare Botschaften
Emotionale Beteiligung
Geschlossene Erzählungen
Gedenkorte werden oft als abgeschlossene Einheiten inszeniert. Sie vermitteln eine klare Botschaft, meist ohne Widerspruch oder Mehrdeutigkeit. Sie zielen auf emotionale Beteiligung, nicht selten durch Pathos, Opfergesten oder Heroisierung.
Und sie folgen einer linearen Geschichte, die eine bestimmte Lesart nahelegt – oft die nationale, heroische, moralisch überlegene Erzählung. Die Wirkung solcher Gedenkformen ist nicht zu unterschätzen. Sie emotionalisieren, sie stiften Identität, sie erzeugen Gemeinschaft – aber oft um den Preis der Ausschließung anderer Perspektiven. Widersprüche und Mehrdeutigkeit werden ausgeschlossen.
Episches Erinnern
Demgegenüber steht das epische Theater – das vor allem durch Bertolt Brecht geprägt wurde. Es funktioniert ganz anders:
Es bricht mit Illusionen, unterbricht die Handlung, macht die Bühne sichtbar.
Es zwingt das Publikum zum Denken, nicht zum Mitempfinden.
Und es will nicht bestätigen, sondern befragen – Strukturen, Machtverhältnisse, Widersprüche.
Das epische Theater will nicht beruhigen, sondern irritieren.
Ein epischer Erinnerungsort:
zeigt mehrere Perspektiven
lädt zur Diskussion ein
macht Erinnerung verhandelbar
Ein solcher Ort könnte z. B. die Geschichten von Gefallenen, Deserteuren, Zwangsarbeiter*innen und marginalisierten Gruppen nebeneinanderstellen. Er würde nicht versuchen, eine Vergangenheit zu verklären, sondern sie zur Diskussion stellen. Und er würde die Betrachter*innen nicht emotional beruhigen, sondern in Unruhe versetzen – um sie zum Weiterdenken zu bewegen.
Warum diese Vergleichsanalyse wichtig ist
Warum also dieser Theatervergleich?
Weil er uns hilft zu verstehen, wie Erinnerung inszeniert wird – und warum manche Formen des Gedenkens exkludierend wirken können, während andere pluraler und demokratischer angelegt sind.
Der Vergleich soll aber auch die zwei Modi benennbar machen und verdeutlichen: es kann kein entweder-oder geben. Gruppen, die sich im Modus des aristotelischen Theaters selbstvergewissern, gibt es und wird es auch immer geben. Aber wenn es um die öffentliche Mediation zwischen den Gruppen einer Gesellschaft geht, sollte auch auf einen epischen Modus geachtet werden.
Das aristotelische Erinnerungsmodell ist weit verbreitet – gerade im Kontext nationaler Gedenkkulturen. Es schafft Ordnung, bietet Orientierung, stabilisiert Zugehörigkeit, wie sie uns antrainiert wurde. Doch genau darin liegt auch die Gefahr: Es erzeugt eine scheinbare Eindeutigkeit, wo es eigentlich Ambivalenz bräuchte. Es neigt zur Verabsolutierung – von Heldentum, von Nation, von Geschichte. Wir Menschen sind aber nicht kategorisch. Wir haben alle Zwischentöne.
Eine Anerkennung von Ambivalenz und die Kompetenz darin zu navigieren muss nicht im Umkehrschluss verunsichern, sondern kann auch ganz eigene Logiken von Sicherheit entstehen lassen.
Das epische Modell erkennt an, dass Erinnerung immer auch Auseinandersetzung und nie abgeschlossen ist. Dass Geschichte nicht abgeschlossen ist, sondern sich in jedem Erinnerungsakt neu formt. Und dass wir – als Gesellschaft – nicht nur Zuschauer*innen, sondern Mitspielende auf dieser Bühne sind.
Erinnerung als offene Praxis
Was bedeutet das für die Zukunft?
Wenn wir Erbe nicht als Besitz, sondern als Beziehung verstehen, dann bedeutet das:
Es muss immer wieder neu verhandelt werden können.
Es muss offen sein für Konflikt, Dissens, Perspektivwechsel.
Es darf nicht nur beruhigen, sondern soll auch zum Denken anregen.
Das Denkmal am Neustädter Markt ist ein idealer Ort für genau solche Fragen. Es zeigt, wie Erinnerung gemacht wurde – und wie sie sich verändert. Es zeigt, wie öffentlicher Raum zur Bühne wird.

Schlussgedanken
Und schließlich hilft uns dieser Vergleich auch, das einleitende Paradox besser zu fassen:
„Heritage is the answer – but what was the question?“
Wenn Kulturerbe als Antwort verstanden wird – aber niemand fragt, worauf eigentlich –, dann landen wir nur im aristotelischen Modus: Ein emotional besetzter Erinnerungsakt, der beruhigt, aber nicht hinterfragt.
Wenn wir also Kulturerbe nicht länger als Besitz denken, sondern als Beziehung – dann müssen wir auch bereit sein, uns auf unterschiedliche Erinnerungspraktiken einzulassen.
Die zwei Erinnerungstheater-Modi zu sehen und im Verhältnis miteinander zu denken, benötigt Konfliktfähigkeit, Offenheit, aber auch eine Sicherheit im Streit.
Es kann uns helfen zu erkennen, dass Identität nicht von oben festgeschrieben, sondern ausgehandelt wird.
Dass Erbe nicht statisch, sondern beweglich ist.
Und dass Erinnern nicht bedeutet, eine Geschichte immer wieder gleich zu erzählen – sondern sie immer wieder neu zu hinterfragen, gemeinsam, im Gespräch.
Vielen Dank
Der Vortrag und das anschließende Gespräch mit Anike Joyce Sadiq bildeten eine von drei Veranstaltungen in Kooperation mit dem Kunstraum IDEAL und im Rahmen der Ausstellung „2 Tonnen Kalkstein – Neubetrachtung des Denkmals am Markt.“
Dr. Gülşah Stapel ist Co-Gründerin und Co-Direktorin des TAM Museums zu 500 Jahren deutsch-türkeistämmigen, transkulturellen Geschichten. Sie ist zudem Teilzeitkuratorin für Outreach Prozesse bei der Stiftung Berliner Mauer und im Vorstand von ICOM Deutschland. Die Hanse-Bosporus-Deutsche ist Expertin für urbanes Kulturerbe und Erinnerungspolitik. Sie ist Dipl.-Ing. für Stadt- und Regionalplanung und verfasste ihre Dissertation Identität und Erbe im Rahmen des DFG Graduiertenkollegs an der TU-Berlin. Ihre Publikation Recht auf Erbe in der Migrationsgesellschaft. Eine Studie an Erinnerungsorten türkeistämmiger Berliner*innen erschien 2023 im Urbanophil Verlag.